Hans-Jürgen Lange: Wunderglaube im Heidentum und in der alten Kirche

(Erschienen in: Heidnisches Jahrbuch 2006, Verlag Daniel Junker)

Die Welt des Altertums war voller Wunder, die alten Götter offenbarten sich noch dem, der sie rief. Die Angebeteten schenkten Prophezeiungen für das Dunkel der Zukunft und Heilung von den Leiden. Die Angebeteten schenkten Prophezeiungen für das Dunkel der Zukunft und Heilung von den Leiden.(1) Die Orte an denen solches geschah sind überliefert, wie beispielsweise die griechische Tempelanlage des Asklepios (Äskulap) zu Epidauros, die durch ihre göttliche Kraft zu einem antiken Pilgerort der Kranken wurde. Manche der Wunderstätten waren in der ganzen damaligen Welt berühmt und sind es bis heute geblieben, wie das Orakel von Delphi.

Gerade die Seherkunst beruhte auf der Vorstellung, dass die Welt der Götter in unlösbarer Beziehung mit der Welt der Menschen verknüpft ist und dass ihre wirkliche Stimme durch das Orakel spricht. Die griechische Entsprechung für das Wort Orakel bedeutet: einen Sitz des Wahr-Sagens, einen Platz wo man (auch) durch geeignete Mittel göttlichen Rat und Hilfe gewinnen kann. Was auf magische Beschwörungen hindeutet. Und selbst Erscheinungswunder oder Manifestationen wurden bezeugt, so zeigten sich die Götter Serapis und Äskulap, als der Tempel von Delphi von fremden Heerscharen bedroht wurde. Minucius Felix(2) berichtet über solche Göttererscheinungen, genauso wie Celsus(3) in seiner Schrift gegen die Christen. Darüber hinaus waren es bei den Heilungen oft Standbilder, Säulen oder Steine, die göttliche Wunderkräfte beherbergten und all jenen halfen, die sie verehrten.

Blieben die Wunder aus, kam der menschliche Glaube manchmal ins Wanken, so wurden nach dem peloponnesischen Krieg die Götter für die verlorene Vormachtstellung Athens verantwortlich gemacht. Und als Rom 410 n. Chr. in die Hände der „Barbaren“ fiel, sah man im Christentum die Ursache des Unglücks, weil die Christen den alten Göttern den gebührenden Respekt entzogen. Noch 100 Jahre zuvor hatte es geheißen „Rom hat durch seine Religion, indem es alle Kulte aufnahm, die Weltherrschaft verdient.“ Beides zeigt, dass auch Wunder ein Politikum sein können. Dabei will ich nicht näher auf die Tatsache eingehen, dass es schon damals genügend Skeptiker gab, wie Cicero(4), die in dem Überlieferten nur noch eine notwendige und erfolgreiche „Erfindung“ für die Massen sahen. Offensichtlich hatte der „Glaube“ mit der verfeinerten Kultur seine ursprüngliche Unschuld verloren. Immer noch notwendig und erfolgreich, weil die Wunder, Macht und Machtpolitik hilfreich stützten.

Da wundert es nicht, dass Wunder und ihre Mysterien auch Eingang in das frühe Christentum fanden, denn die neue monotheistische Religion stand damals in einer Reihe mit den alten Kulten. Die Menschen hielten es einfach für selbstverständlich, dass auch das Christentum mit geheimnisvollen Mysterien verbunden war. Und weil Überzeugungen Erfahrungen schaffen, geschehen die Dinge.

Lucian(5) nennt im zweiten Jahrhundert, und Celsus im dritten, Christus einen Stifter neuer Mysterien. Die neue Kirche sah zu dieser Zeit mit welchen Erfolg die Manichäer und andere Sekten ihre Geheimkulte der Mysterien einführten. Folglich entstand ähnliches auch im Christentum. Ein Beleg dafür sind die Vorträge die Bischof Cyrill(6), die er 347 in der Grabeskirche zu Jerusalem hielt. Cyrill, der sich selbst mit einem heidnischen „Mystagogos“ vergleicht, führt die Getauften zur letzten Stufe der Einweihung, in der die Wunder geschehen, dabei vertreibt das heilige Öl die Dämonen und schützt Leib und Seele gegen finstere Mächte. Ein weiteres Wunder ist die magische Verwandlung des Brotes in den Leib Christi und des Weines in das Blut Christi. So ist es bis heute geblieben, obwohl das Mysterienwesen stillschweigend verschwand.

Natürlich war das nicht alles, denn das expandierende Christentum befand sich im dritten Jahrhundert auch in direkter Konkurrenz zum Neuplatonismus und seiner ausgebildeten Dämonenlehre. Die religiöse Vorherrschaft zu gewinnen, war ohne Wunder unmöglich und so kämpfte von nun an Wunder gegen Wunder. Dabei entstand für die Kirchenführer ein Dilemma, denn einerseits erklärten sie die heidnischen Wunder als Werke schlechter, trügerischer Dämonen(7), auf der anderen Seite war es erwünscht, wenn die Dienste der Götter und Dämonen zur Ehre Christi oder zur Gewinnung der Heiden verwendet wurden.

Anders ging es wohl nicht, denn die Christen hatten im dritten Jahrhundert keinen guten Leumund und die gängige Ansicht der heidnischen Welt war, dass der Christengott seinen Anhängern nicht helfen will oder kann, also entweder ohnmächtig oder ungerecht sei. Dem gegenüber stand besonders augenfällig die Heilung der Besessenen. Dieser Exorzismus offenbarte die Macht der Kirche und es gab Männer von Bedeutung, die in dieses Amt ordiniert wurden(8). Justinus(9) schreibt im sechsten Kapitel seiner zweiten Apologie: „Viele der Unserigen, nämlich Christen, haben eine große Zahl Besessener in aller Welt geheilt, nachdem diese von allen anderen Beschwörern und Zauberern nicht geheilt waren, und das geschieht noch jetzt, indem die Dämonen, von denen diese Menschen besessen sind, entkräften und austreiben.“ Die Heiden konnten sich also davon überzeugen, dass der Name „Jesus“ vor allen anderen die größere Macht besaß. Tertullian(10) schreibt in seinem Apologetius: „Wenn ein beliebiger Christ dem Dämon zu reden befiehlt, wird derselbe die Wahrheit eingestehen, dass er nämlich ein Dämon ist. - Was ist klarer, als diese Tat, was getreuer, als dieser Beweis?“

Da aber die Macht der alten Götterdienste nicht von heute auf morgen verschwand und weiter die Gemüter bewegte, bezeichnen die apostolischen Konstitutionen(11) aus dem vierten Jahrhundert solches Heidentum als Lehre des Satans. Danach dienen alle heidnischen Feste und Opfer nur einem Zweck: der Verehrung dunkler Dämonen. Je größer die Macht der Dämonen dargestellt wurde, um so mächtiger strahlte die wahre Macht des Christentums. So leugnet Augustin(12) nicht das im Venustempel brennende Licht, das von keinem Sturm oder Regen gelöscht werden konnte. Er führt aber dazu die rhetorische Frage an, wenn Dämonen solches tun könnten, um wie viel größer seien dann die Wunder Gottes durch seine Engel?

Und ein weiterer Aspekt hat die Autorität der Kirche nicht unwesentlich gestärkt, es ist die Hinterlist der heidischen Dämonen. „Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellt sich zum Engel des Lichts.“(13) Die bedrohliche Macht und Verführung solcher trügerischen Wunder nennt ebenfalls warnend der Evangelist Matthäus: „Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten auferstehen, und große Zeichen und Wunder thun, daß verführet werden in den Irrthum (wo es möglich wäre) auch die Auserwählten.“(14)

Es sind sicher nicht die einzigen Belege, die man im neuen Testament finden kann. Und Beispiele für die wahren Wunder, die dann den weiteren Aufstieg des Christentums begleiteten sind zahllos, sie gipfeln in den Taten und Leiden der Märtyrer, die heilig gesprochen noch heute von der katholischen Kirche verehrt werden.

Gewiss entsprechen nicht alle der alten Wunder dem, was man heute als Wunder bezeichnen würde, aber selbst unter kritischen Gesichtspunkten lässt sich eine nicht abreißende Kette der Wunder bis in der Neuzeit feststellen. Es gibt blutende Heiligenbilder(15) und Plastiken, Erscheinungen der Muttergottes, wie in Lourdes, wo sie dem Ort wundersame Heilkraft schenkte, und Stigmatisierte, von denen Therese Neumann aus Konnersreuth im deutschsprachigen Raum zu den Bekanntesten zählt. Zu all diesen Phänomen gibt es eine zahlreiche Literatur(16) und selbst Freidenker mussten feststellen, dass man nicht alles mit bewusstem Betrug erklären kann, was solche Wunder zu einem theologischen Problem und einem Forschungsgebiet der Parapsychologie machen.(17)

An dieser Stelle möchte ich eine ganz erstaunliche und nachdenkenswerte Tatsache anführen: in der protestantischen Kirche gibt es und gab es weder Wunder noch Wundererscheinungen. Dies kann an einem ganz einfachen Grund liegen: man glaubt dort nicht an Wunder. Die von Luther reformierte Kirche ist geprägt von sehr rationalen Einstellungen, deren „Bildersturm“ die Gotteshäuser sogar von allen emotionalen Beiwerk befreite. Während der Ritus der katholischen Kirche das Irrationale zelebriert - in jedem heiligen Abendmahl vollzieht sich das Wunder des Glaubens, die schon erwähnte magische Umwandlung von Brot und Wein. Damit steht der Katholizismus, dem von ihm so scharf verfolgten Heidentum näher, als er es selbst wahr haben will. Die in Stein gehauenen Dämonen an den alten Kirchen, legen beredend Zeugnis darüber ab, wie nahe die magische Welt mit dem Christentum verbunden ist. Oder frei nach Goethe: „Der eine wäre die Geister, die er rief, gerne los. Der andere beschwört sie vergebens.“(18) Eines ist offensichtlich, die magischen Wunder sind auf untergründige Weisen mit den Menschen verbunden, schon Ovid sagte „Wunder erzähl’ ich, das Wunder geschah.“ Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass der Unterschied zwischen dem Wunder, „das einfach geschieh“ und dem, das „heraufbeschworenen“ wird, nur ein scheinbarer ist. Beides hat letztendlich seinen Ursprung im Menschen und dient dem Menschen.

 

 

1 Weinreich, Otto: Antike Heilungswunder. Gießen 1909

2 Marcus Minucius Felix (um 220). Altkirchlicher Verteidiger des christlichen Glaubens (Apologet), der aus Nordafrika stammte und zu Beginn des 3. Jahrhunderts in Rom als Rechtsanwalt tätig war. Sein Dialog Octavius stellt einen frühen Höhepunkt altkirchlicher Auseinandersetzung mit der römischen Bildungswelt auf hohem sprachlichem (an Cicero und Seneca geschulten) und philosophischem Niveau dar. Wobei allerdings das von ihm vertretene Christentum eher philosophisches Gepräge trägt und der Monotheismus als Übereinstimmung mit der griechischen Philosophie geschildert wird.

3 Celsus (griech.: Kelsos), spätantiker Philosoph des 2. Jahrhunderts, der platonische und stoische Lehren verband. Er verfaßte 178 die umfangreiche Streitschrift »Alethes légos« (»Wahres Wort«), mit der er den christlichen Offenbarungsglauben bekämpfte, nach seiner Ansicht gebe es nur einen allen Menschen gemeinsamen Logos, der durch intellektuelle Anschauung und tugendhaftes Leben erfasst werde könne. Das Werk ist verloren, aber rekonstruierbar aus der vollständig erhaltenen Gegenschrift des Origenes »Katà Kélson« (»Contra Celsum«) von 248.

4 Marcus Tullius Cicero (106 - 43 v.Chr.), römischer Politiker, Anwalt und Philosoph. Der berühmteste Redner Roms und Consul im Jahr 63 v. Chr. Im Jahre 43 v. Chr., ein Jahr nach Caesars Ermordung, fiel Cicero während des zweiten Triumvirates den Proskriptionen ermordet, weil er sich stark für den Fortbestand der Republik eingesetzt und persönlich gegen Marcus Antonius agitiert hatte. Er behandelte wichtige Teile der griechischen Philosophie in lateinischer Sprache und äußerte sich kritische über die zu einer Zeit existierenden logischen Schulen und Lehren.

5 Lucian von Samosata (ca. 120 - nach 180 n. Chr.) Rhetoriker, Wanderlehrer und Verwaltungsbeamter in Ägypten. Sein Werk ist von literaturgeschichtliche Bedeutung, weil er den Dialog durch eine Verbindung mit der Komödie und Satire neu belebte. Seine Schriften bieten eine Fülle kulturgeschichtlicher Informationen, er geißelt ironisch Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen, unter anderem die Eitelkeit der Rhetoren oder die Leichtgläubigkeit des Volkes. Seine Berichte über das zeitgenössische Christentum finden sich besonders in »De morte Peregrini« und »Alexander sive Pseudopropheta«, in denen er die Christen als eine harmlose, abergläubische Sekte beschreibt.

6 Cyrill von Alexandrien (380 - 444), Bischof von Alexandrien, Kirchenlehrer, Heiliger. Er kämpfte gnadenlos gegen den Arianismus und Nestorianismus und alle, deren Standpunkte er als unverträglich mit der christlichen Gemeinde in Alexandria erachtete. Im Kampf gegen das ägyptische Mönchstum vermischten sich bei Cyrill machtpolitische Motive und Sorge um den rechten Glauben. Aus den Kreisen der Mönche soll es anlässlich seines Todes geheißen haben: "Endlich, endlich ist dieser schlimme Mann gestorben. Sein Abschied erfreut die Lebenden, aber er wird die Toten betrübt haben". Als Heiliger verehrt, wurde Cyrill 1882 von Papst Leo XIII. zum Kirchenlehrer ernannt, in der orthodoxen Kirche zählt er sogar zu den Kirchenvätern.

7 Augustinus, Aurelius (354-430) der bedeutendste lateinische Kirchenvater und Theologe des Abendlandes. Anfangs erschien ihm der Manichäismus als eine höhere, philosophische Form des Christentums, später bekämpfte er diese Weltanschauung. Augustinus entwickelte die Lehren von der Erbsünde, der göttlichen Gnade, der göttlichen Souveränität und der Prädestination, die über Jahrhunderte bis ins hohe Mittelalter die Theologie beeinflusste. In seiner Schrift: "De civitate Dei" (Gottesstaat) schreibt er: „Durch Macht der Dämonen geschahen Wunder.“ (XV, 23)

8 Nach Paulinus war bereits der Märtyrer Felix in Nola Exorzist

9 Justinus (?- zw. 163 und 167), Philosoph, Apologet und Märtyrer. Auch als Christ teilte er weitgehend die Auffassungen der platonischen Philosophie, indem er eine Logoslehre in Absetzung von dem judenchristlichem Adoptianismus und der gnostischer Hypostasenlehre entwarf. Neben dem Dialog ist von Justinus noch eine Apologie an den Kaiser Antoninus Pius, seine Söhne und den römischen Senat erhalten und eine zweite kürzere Apologie.

10 Quintus Septimius Florens Tertullianus oder kurz Tertullian (um 160 - um 230). Rechtsanwalt und umstrittener Kirchenvater. Zu seinen Werken zählen viele Streitschriften gegen die Juden, gegen die Gnosis (Valentinianer und Doketisten), gegen Marcionisten, andere Häresien und gegen die Kindertaufe, aber auch Verteidigungsschriften für das Christentum vor heidnischem Publikum. Er übersetzte zahlreiche biblische Texte aus dem Griechischen. Seine Gewohnheit, den Philosophenmantel zu tragen, legte er nie ab. Trotz zahlreicher Angriffe fühlte er sich der "heidnischen" Philosophie (vor allem Platon und der Stoa) immer verpflichtet. Gegen Ende seines Lebens verließ er die orthodoxe katholische Kirche und schloss sich der apokalyptischen Sekte der Montanisten an, deren lokaler Führer er um 210 wurde. Deshalb wird er nicht als Heiliger anerkannt. In Tertullian sah man die Quelle einer theologischen Tendenz, die 1054 schließlich zum Bruch zwischen West- und Ostkirche führte.

11 Apostolischen Konstitutionen 2,62; 5,16 - Die älteste anerkannten Sammlung kirchenrechtlicher und liturgischer Vorschriften. Vgl. als Textausgabe: Franciscus Xaverius Funk (Hg.): Didascalia et constitutiones apostolorum I. Paderborn 1905

12 Augustinus von Hippo, (auch: Augustinus von Thagaste, dtsch. Augustin; 354 - 430), Kirchenlehrer und Philosoph. Der als Heiliger verehrte, einer der bedeutendsten christlichen Theologen in der Antike. Er folgte zuerst dem Manichäismus und dem Neuplatonismus. Nach seiner Bekehrung wurde er 396 Bischof von Hippo Regius in Afrika. Augustins Philosophie enthält von Platon übernommene, jedoch im christlichen Sinn modifizierte Elemente wie die Idee vom Absoluten oder den Dualismus von Geist und Materie.

13 2 Kor. 11,14

14 Matth. 24,24

15 Birven, Dr. Henri: Abbé Vachère. Ein Thaumaturg unserer Zeit. Brandenburg 1928

16 Für den christlichen Standpunkt die Werke von Bruno Grabinski, z.B.: Wunder. Stigmatisation und Besessenheit in der Gegenwart. Hildesheim (1923)

17 Kafka, Gustav: Naturgesetz, Freiheit und Wunder. Paderborn 1940

18 Bereska, Henryk: Und wenn die mageren Jahre die fetten waren? Berlin 1996/99


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